LUST & LIEBE

ABSCHIEDSBRIEF & ANSTANDSBISSEN

Text: Martina Bücher // Illustration: Michael Otto

“Mit dir ist das Leben schön!” Müde starrt Dora auf das kunstvoll beschriftete Lebkuchenherz, das Paul für sie aus Mariazell mitgebracht hatte. Der Gedanke, es ihm hübsch verpackt per Post zurückzuschicken, geht ihr durch den Kopf. Sie verwirft ihn gleich wieder.

Zu pathetisch. Sie will kein Drama, sondern einfach nur weg aus der erdrückenden Enge. Abschiedsgesten fielen ihr schon immer schwer. Wie zeigt man gebührend Respekt und Anerkennung für das gemeinsam Erlebte? Sie mag Paul ja immer noch, aber ihr Drang nach individueller Freiheit und die Neugierde auf Abenteuer ist einfach zu stark.

Livia steht an diesem Morgen vor einem ähnlichen Dilemma. Das Date verlief gut. Der Sex war zufriedenstellend. Aber sie hatte wieder einmal den Fehler gemacht, neben ihrer jüngsten Eroberung einzuschlafen. Nun ist sie aufgewacht und weiß nicht, was zu tun ist. Er atmet schwer. Sein um sie geschlungener Arm fühlt sich drückend heiß an. Sie befreit sich vorsichtig. Sie liegt nackt in einem fremden Bett und will einfach nur weg. Sie entschließt sich aufzustehen und möglichst lautlos zu verschwinden. Bevor sie die Wohnung verlässt, entscheidet sie sich, ihm noch einen Zettel zu hinterlassen: „Die Nacht mit dir war schön!“

Bereits in der Antike gab es das Ritual, nach einem gemeinsamen Gelage die Reste des Essens für die Götter oder die Sklaven (hier schwanken die Berichte) zurückzulassen. Den Anstandsbissen, der als Symbol der Höflichkeit auf dem Teller zurückgelassen wird, findet man in verschiedenen Epochen und Kulturen. Erst ab dem Ersten Weltkrieg wurde es wegen der akuten Lebensmittelknappheit zur Höflichkeit, alles aufzuessen, was serviert wurde. Man wollte das rare Gut schließlich nicht verschwenden

Um dennoch ein kleines Zeichen der Dankbarkeit zu setzen, bringt man bei privaten Einladungen kleine Gastgeschenke mit. Im Gasthaus erfüllt das Trinkgeld diese Funktion.

Wie aber läuft das nach einem unverbindlichen Sexabenteuer? Ein kräftiger Handshake mit geradem Blick in die Augen? Ein verschmitztes Grinsen mit schüchternem Blick? Man könnte eine Socke als Art Anstandsbissen zurücklassen oder eben einen lobenden Satz auf einem Zettel als Trinkgelderforsatz auf dem Küchentisch positionieren. Nach dem Ende einer längeren Beziehung gestaltet sich der respektvolle Abschied deutlich schwieriger. Meist gelingt er nur, wenn beide Beteiligten emotional bereits etwas distanziert sind. Ansonsten spielen Scham, Wut und Angst eine dominante Rolle. Um dieses Dilemma zu lösen, bieten sich Mediation oder professionelle Trennungsbegleitung an. Beide bieten die Möglichkeit, den Abschied harmonisch und unter Berücksichtigung der Interessen beider Partner zu gestalten.

Dora entschließt sich, das Herz zu behalten. Die Zeit mit Paul war schön, solange sie eben dauerte. Zur Feier ihrer Entscheidung geht sie in ihr Stammcafé und schreibt einen liebevollen Brief an Paul. Abschicken wird sie ihn wahrscheinlich nicht. Aber sie fühlt sich sehr gut, als sie dem netten Kellner ein großzügiges Trinkgeld überreicht.

 

wer&was

MARTINA BUCHER

Martina Bucher ist Psychologin, klinische Sexologin und Kommunikationstrainerin. Sie begleitet Menschen bei Anliegen zu den Themen Sexualität, Bewusstheit und Genuss. Mit ihren Texten verknüpft sie ihren Beruf mit ihrer Leidenschaft für Gastronomie.

martina.bucher@lustundleben.at