ALLES WAS FLÜGEL HAT, FLIEGT
Text: Wolfgang Schedelberger; Fotos: Francesco Lazzarin
Außerhalb der Küche zeigt sich Giuliano nur selten in seinem extravaganten Arbeits-Outfit.
Giuliano lacht viel und gerne. Er scheint ein fröhlicher, fast unbeschwert lebender Mensch zu sein. Das ist die eine Seite. Er hat in seinem Leben aber auch schon sehr viel geweint. Eine verstörende Kindheit führte zu einer rebellischen Jugend und tiefen Sinnkrisen. Das ist die andere Seite.
Schlussendlich hat Giuliano im Kochen seine Erlösung gefunden. Vor zehn Jahren konnte er sogar ein eigenes Restaurant aufsperren, das er gerne als Refugium bezeichnet. Gleich im ersten Jahr wurde das Aqua Crua auf Anhieb mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Wieso bislang noch kein zweiter Stern folgte, wissen wir nicht. Wahrscheinlich hat es mit der unkonventionellen Art und Weise, mit der Giuliano sein Ristorante führt, zu tun.
Wenn der Patron seine weiße Kochmontur gegen den schwarzen Latex-Anzug tauscht, geht stets ein Raunen durch den Raum. Dem Patron ist das egal, denn er ist total auf sich selbst fokussiert. Auch wenn er mittlerweile im ganzen Land als „Latex-Koch“ bekannt ist, legt er keinen gesteigerten Wert auf eventuelle Reaktionen aus dem Publikum. Er macht das einzig und allein für sich und nicht aus Gefälligkeit.
Nachdem man ein paar Stunden mit ihm in seinem geliebten Wald verbracht hat, ist klar, dass ihm billige Marketing-Gags so was von egal sind. Auch Eitelkeit schein ihm fremd zu sein. Was es mit dem Faible, in Latex zu kochen auf sich hat, wollen wir später klären.
«Ich muss wissen, womit ich koche.»
GIULIANO BALDESSARI
Idylle in den Dolomiten
Wir fahren wir zunächst einmal zwei Stunden an Bassano del Grappa vorbei nach Löweneck Levico Terme), wo die spektakuläre Bergwelt der südlichen Dolomiten beginnt. Ein kurzer Stopp bei einem kleinen Feld, wo Giuliano verschiedene Gemüsesorten anbaut. Dann geht es unzählige Serpentinen hinauf auf den Berg, wobei Giuliano immer wieder anhält, um wilde Kräuter zu pflücken. Sogar ein paar Morcheln finden wir beim Waldspaziergang. Stets gut gelaunt und beschwingt erzählt er von der Magie der Berge, wo seine Freunde auf die Jagd gehen. Ab und zu bekommt er ein besonders gutes Stück Wild ins Ristorante geliefert. „Ich muss wissen, womit ich koche. Nur dann kann ich mich ernsthaft mit der Verwandlung von einem Lebensmittel in ein Gericht beschäftigen“, erzählt Giuliano während wir über saftige Almwiesen wandern. Er spricht leise, fast wie zu sich selbst. Es scheint ihm nicht wichtig zu sein, mit großen Worten Botschaften zu versenden. Er berichtet nur, was er so macht. Mehr nicht.
Es beginnt zu regnen. Wir kehren in eine kleine Almhütte eines alten Freundes ein. Feuer wird gemacht, eine Polenta auf dem Herd gerührt. Vorher gibt es ein bisschen Käse und Wurst. Giuliano öffnet eine Flasche Rotwein, die aus seinem eigenen, winzig kleinen Weingarten in Löweneck stammt. Ein einfacher Wein, auf seine Weise aber doch großartig. Naturwein pur. Eine Kollegin aus London ist mit von der Partie. Wir sind also eine bunt zusammengewürfelte Runde, und doch fühlt sich hier alles sehr vertraut und freundschaftlich an. Glanz & Glamour eines extrovertierten Latex-Künstlers? Fehlanzeige!
Links: Die Kreationen der „Initiationsmenüs“ überraschen durch die Bank. Rechts: Mit heiterem Ernst – im Aqua Crua darf auch gelacht werden.
«Marc Veyrat hat mir viel Mut gegeben.»
GIULIANO BALDESSARI
Wanderjahre am Meer und Berg
Auf der Rückfahrt nach Barbarano Vicentino, der kleine Ort im Süden Vicenzas, wo das Aqua Cru beheimatet ist, haben wir dann die Gelegenheit, über Giulianos beruflichen Werdegang zu reden. Das Kochen hat ihm schon immer Spaß gemacht. Das Arbeiten in einer hierarchischen Brigade, wie es großen Restaurants üblich war ist, musste er mühsam lernen. Nach der Lehre folgten abwechslungsreiche Wanderjahre. Zunächst ging es nach Augsburg, dann in die noble Villa D’Este am Comer See und schließlich auf ein Kreuzfahrtschiff in die Karibik. Zurück in Italien wollte er es dann wirklich wissen. Er heuerte im Mailänder 2-Sterne Restaurant Il Luogo di Aimo e Nadia an, das Giulianos Vorstellung von gutem Essen entscheidend geprägt hat. Genauso wichtig – aber auf einer ganz anderen Ebene – war dann seine Zeit beim exzentrischen 3-Sterne Koch Marc Veyrat. Keine einfache Zeit, denn der eigenwillige Meisterkoch war im Umgang schwierig, seine Wutausbrüche unvorhersehbar und gefürchtet. Dennoch ist ihm Guliano unendlich dankbar, weil er ihm vorgezeigt hat, dass man auch in radikaler Unangepasstheit sehr erfolgreich sein kann.
Die Welt der Luxusgastronomie
Giuliano war Ende 20 und hatte sein Leben schlussendlich in den Griff bekommen. Sowohl das Einkommen als auch sein Selbstbewusstsein waren auf einem zufriedenstellenden Niveau angekommen. Die nächsten fünf Jahre werkte er an der Seite von Massimiliano Alajmo in dessen berühmten 3-Sterne Restaurant Le Calandre in Padua. „Das war eine sehr befriedigende Zeit. Gemeinsam mit Massimiliano zu kochen, hat mich enorm weitergebracht, sowohl beruflich wie auch menschlich. Im Laufe der Jahre wurde er vom Chef zum Freund. Der Abschied ist mir schwergefallen, aber ich hatte gemerkt, dass es an der Zeit war, selbst zu fliegen“, erinnert sich Giuliano an den entscheidenden Schritt in die Selbständigkeit vor zehn Jahren.
Das Aqua Crua ist auf den ersten Blick ein ganz „normales“ Ristorante mit gepflegtem Ambiente und angenehmer Atmosphäre. Auffällig ist zunächst nur der große Vogelkäfig, aus dem ein vielstimmiges Gezwitscher ertönt. Die Wände sind in Taubengrau gehalten, der Boden mit Holz getäfelt. Die Rückseite des Raums bildet eine mit Pflanzen bewachsene Wand, am anderen Ende liegt die offene Küche.
«Nein, es ist nichts Sexuelles.»
GIULIANO BALDESSARI
Drei Schritte zur Initiation
„Mir ist es wichtig, die Reaktion der Gäste im Auge zu haben, um ein Gefühl dafür zu haben, wie der Abend läuft“, erklärt Giuliano. Zur Wahl stehen drei Menüs – Iniziazione I, II und III sowie eine sehr klassisch gehaltene Speisefolge, die als „Verwurzelung“ des Kochs mit der traditionellen Küche bezeichnet wird. Auch das ist großartig, wie wir uns gleich am ersten Tag in Form eines vorbildlichen Risottos überzeugen konnten. In der Regel kommen die Gäste jedoch, um etwas zu erleben – sprich um sich Giulianos verführerischen Initiationen zu unterwerfen.
„Dabei lade ich die Gäste ein, mit mir auf eine kulinarische Reise zu gehen, die ich augenzwinkernd als Gratwanderung zwischen Strenge und Wahnsinn bezeichne. Ich verstehe das als eine Form des Dialogs, wobei ich natürlich die Rolle des Geschichtenerzählers übernehme. Die Geschichten bauen aufeinander auf. Deshalb müssen Gäste, die das erste Mal da sind, auch mit der Iniziazione I beginnen. Beim zweiten Besuch gibt es dann Iniziazione II und erst beim dritten Mal, wenn wir uns schon ein bisschen besser kennen, folgt dann Iniziazione III“, erklärt Giuliano.
Schmecken tun alle drei Menüs großartig, allerdings erfordern die Varianten II und III eine intensivere Auseinandersetzung mit den einzelnen Gerichten. Sie sind komplexer und gehen beim „Geschichtenerzählen“ etwas tiefer. Natürlich wechseln die Menüs mit den Jahreszeiten und spiegeln die saisonalen Verfügbarkeiten wider. Bei aller Ernsthaftigkeit des Konzepts gerät die Umsetzung stets mit spielerischer Leichtigkeit, manchmal sogar mit einem gewissen Übermut. Nicht alles muss dabei kulinarisch Sinn machen, wie etwa das gedünstete Hasenohr, dass tatsächlich eines ist. Derartige Verrücktheiten findet man frühesten beim dritten Besuch und sollten auch nicht überbewertet werden. Sie folgen ganz dem Motto: Wer will mir sagen, dass man so etwas nicht darf?
Die Liebe zu Vögeln
Giuliano ist ein eigenwilliger Mensch, der seinen Weg gefunden hat und so lebt, wie er es für richtig hält. Tauben liebt er. Er streichelt sie. Er lässt sie fliegen. Er weiß, dass sie wieder zurückkommen. Irgendwann einmal kommt allerdings der Zeitpunkt, wo er ihnen mit einer raschen Handbewegung die Gurgel umdreht. Dann streichelt er sie wieder liebevoll. Erst dann dürfen sie in die Küche wandern. Es gibt wohl keinen zweiten Koch in Italien, der sich derart intensiv mit Tauben beschäftigt, wie Giuliano. Folgerichtig gibt es auch nur wenig andere Restaurants, wo Taubengerichte so gut schmecken.
Zu guter Letzt wollen wir noch den Latex-Spleen, für den der Chef so bekannt wurde, klären. „Nein, es ist nichts Sexuelles, obwohl ich mein erstes Latex-Kostüm in einem Sexshop gekauft habe. Es war aus einem billigen Material. Dennoch hat es auf mich sofort eine faszinierende Anziehungskraft ausgestrahlt. Ich habe es dann heimlich zum Kochen angezogen und bemerkt, wie es mir dabei hilft, sämtliche andere Einflüsse auszublenden und mich total auf die Zubereitung eines Gerichts zu konzentrieren. Am Anfang habe ich dafür geschämt, weil mir die Vorstellung, in dieser Verkleidung vor Publikum zu kochen, peinlich war. Nach ein paar Jahren im Verborgenen bin ich jedoch zu dem Entschluss gekommen, mich nicht weiter zu verstecken. Wieso auch? Es ist mein Restaurant. Wer soll mir verbieten, mich so zu geben, wie ich bin?“, erklärt Giuliano.
Eine Reise nach Vicenza zu unternehmen, nur um einen Koch im Latex-Anzug zu erleben, wäre irgendwie absurd. Will man das Restaurant eines außergewöhnlichen Küchenchefs, der nicht nur einen Vogel hat, erleben, ist man im Aqua Crua bestens aufgehoben. Hat man den Antrittsbesuch – sprich die erste Initiation – gemeistert, folgen zumeist zwei weitere Besuche. Schließlich will man sich von diese etwas verrückten, aber durch und durch liebevollen Küchenchef zu einer spannungsvollen kulinarischen Reise verführen lassen.
Giuliano sammelt Kräuter und Wildpflanzen am Wegesrand.
lesen & staunen
„Gelinaz!“-Gründer Andrea Petrini hat in der dritten Ausgabe von Healthy Times einen langen Artikel über die schräge Welt von Giuliano Baldessari geschrieben, bei der er wesentlich tiefer geht, als wir es hier in dieser Form tun können und wollen.
Bei Interesse: The Healthy Times, Issue 3, Herausgeber: Healthy Boys Band, Verlag für modern Kunst, Publishing Haus for modern (F)arts, 2020. www.vfmk.org