DIE KARTOFFEL

Sie ist mit der deutschen Küche ebenso untrennbar verbunden wie mit der österreichischen. Dabei liegen ihre Wurzeln Viel weiter im Westen. Die Kartoffel. Eine weitgereiste Knolle, die uns schon aus so mancher Not gerettet hat. Jetzt wird sie wiederentdeckt. Dank großer Vielfalt und seltener Sorten.

Text & Fotos: Jürgen Schmücking

Nur der Vergleich macht Sie sicher. Sortenvielfalt auf der sensorischen Rüttelstrecke.

Zugegeben, die Kartoffel ist keine „gebürtige” Österreicherin. Aber was soll‘s. Andere Gemüsesorten sind das schließlich auch nicht. Etliche Rüben und Salate haben asiatische Wurzeln, die Roten Rüben wuchsen dagegen zuerst im Mittelmeerraum. Und die Kartoffel?

Wie wir wissen, brachte sie Kolumbus nach Europa. Aber auch, wenn sich die Erdäpfel zu einem Fundament der Wiener Küche gemausert haben, ihren Weg nach Österreich fanden sie über den Westen. Ãœber Vorarlberg und Tirol. Das erste schriftliche Kartoffelrezept (aus dem Jahr 1581) ist nichts anderes als eine Anleitung für ein Tiroler Gröstl. Auch, wenn es damals nicht so genannt wurde: “Schel und schneidt sie klein und röst sie in Speck, der klein geschnitten ist. So wirt es gut und wohlgeschmack.” Wie gesagt, die Sprache hat sich im letzten halben Jahrtausend leicht verändert. Das Rezept allerdings kaum.

Jedenfalls sind die Kartoffeln weder aus der österreichischen Küche noch aus der heimischen Landwirtschaft wegzudenken. Knapp 500.000 Tonnen werden in Österreich als Nahrungsmittel angebaut. Das ist ziemlich genau die Hälfte der gesamten Erntemenge. Etwas mehr als ein Drittel der Ernte wird nicht zur Nahrungsmittelproduktion verwendet. Der Ernteverlust liegt bei ungefähr 10 Prozent, 25 % wandern in die industrielle Stärkegewinnung. Aus 70.000 Tonnen wird Speisestärke, also Kartoffelmehl gemacht, der (Tier-)Futteranteil ist mit 8.000 Tonnen so gering, dass er zu vernachlässigen ist.

Der Ursprung der Kartoffel liegt in Südamerika. Genauer gesagt in Peru. Dort gibt es heute noch über 200 Sorten in über 5.000 Spielarten. Den Weg nach Europa fand die Knolle zuerst als Schiffsproviant, den Matrosen und Seeleute luden, wenn sie sich für die Route zurück nach Spanien oder Portugal einschifften. Danach ging es recht schnell. Unkompliziert im Anbau, stärkereich und ausgezeichnet im Geschmack. Das waren die Säulen, die für die Karriere der Kartoffel verantwortlich waren. 

Der Name selbst – Kartoffel – leitet sich von ‘Trüffel’ – tartuffi – ab. Schaut man auf die Landkarte Europas, wird man in jedem Land verschiedene Bezeichnungen finden. Alleine in Österreich kennen wir die Knollen – je nach Region – als Kartoffel, Erdäpfel oder Grundbirnen. Ãœber die Grenzen hinausgeblickt entdecken wir Erdbirnen, Kartüffel, Tuffel, Schucken, Nugel, Herdäpfel oder Bodabira. Und das sind weit nicht alle Bezeichnungen. 

Nehmen wir die Vielfalt der Namen und Bezeichnungen zum Anlass und kommen zur Vielfalt der Sorten. Hier spielt die Kartoffel nämlich ihre große Stärke aus. Wir kennen im günstigen Fall „Mehlige“ und „Speckige“ und wissen, welche von beiden wir für Kartoffelpüree und welche für Erdäpfelsalat verwenden. Dabei ist die Vielfalt bunt (im wahren Wortsinn) und breit. Beispiele gefällig? 

Da wären zum Beispiel die Linzer Rose, die Rote Emmalie oder der Rote Weinling, Erika, die länglichen Kipfler Weisgram, die violetten Purple Rain oder der wuchtige Kuhbauch. Keine Sorte gleicht der anderen, und jede von ihnen spielt ihre ganz besonderen Eigenschaften aus. Eine davon, die Waldviertler Scheckerl, wurden von der Slow Food Foundation for Biodiversity geadelt und als Passagier in die Arche des Geschmacks aufgenommen. Hier ist ihre Geschichte.

Waldviertler Scheckerl – der Tausendsassa aus dem Norden

Sie sind mittelgroß, haben an ihrer hellbraunen Schale kleine, rote Knöllchen und fast blütenweißes Fleisch. Sie sind von jeglicher Exotik und bunten Farben weit entfernt. Das ist die eine Seite. Es gibt aber auch noch eine andere. Nämlich, dass die Gerichte und Rezepte, die die Grundlagen der Waldviertler Kulinarik ausmachen, ohne sie undenkbar wären. 

Keine Region in Österreich ist so eng mit den Erdäpfeln verbunden, wie das Waldviertel. Für viele Kundige gibt es keine bessere Herkunft für die Kartoffel als das nördliche Waldviertel, wo die Knolle auf einer Seehöhe zwischen 500 und 700 Metern gedeiht. Das Zusammenspiel zwischen den leichten, sandigen, nährstoffreichen Böden und dem kontinental geprägten kühlen Hochflächenklima bietet ideale Bedingungen für die Erdäpfel. 

Nirgendwo sonst entfaltet die Kartoffel eine so große Aromen- und Sortenvielfalt. Die Waldviertler Scheckerl ist eine dieser Sorten. Die Sorte ist in der Region schon eine jahrzehntelange Tradition etabliert. Seit etwa 80 Jahren wird sie im Waldviertel angebaut, über die ihre Geschichte und Herkunft ist nichts bekannt. Ihren Namen verdankt sie jedenfalls der Zweifarbigkeit ihrer Schale. Die Kartoffel ist hellbraun und rund um die Augen rot gefärbt. Die Scheckerl sind festkochend bis mehlig und damit bestens geeignet für Zubereitung traditioneller Waldviertler Gerichte aus Erdäpfelteig. Allen voran natürlich die bekannten – weil sensationell guten – Mohnzelten und die Erdäpfelknödel, eine der Säulen der kulinarischen Dreifaltigkeit des Waldviertels.

Das Scheckerl bringt im Waldviertel sichere Erträge ist gesund und gering anfällig gegenüber der gefürchteten Krautfäule. Außerdem weist sie eine gute Toleranz gegenüber Viruserkrankungen auf.  Durch diese natürliche Widerstandsfähigkeit ist sie für den biologischen Landbau prädestiniert. Das zeigen mehrjähren Beobachtungen am demeter-Hof von Franz Hobiger in Großschönau. Der Hof ist in der Szene bei weitem kein unbekannter. Als Mitglieder der ersten Stunde bei ARCHE NOAH und Reinsaat haben sich die Hobigers den alten Sorten und Rassen verschrieben. Vermutlich ist es einer von ganz wenigen Betrieben, die gleich mehrere Arche des Geschmacks-Produkte im Sortiment haben: die Waldviertler Scheckerl am Acker, das Waldviertler Blondvieh auf der Weide. 

Nicht nur im Waldviertel, auch im äußersten Westen des Landes ist ein Sortenretter in Sachen Erdäpfel unterwegs. Simon Vetter ist Biobauer und führt den Vetterhof. Das ist in Vorarlberg eine ziemliche Ansage, denn die Familie Vetter bewirtschaftet seit über 300 Jahren Land im Ländle. Zudem gehören Simons Großeltern zu den Pionieren der österreichischen Biolandwirtschaft. Der Hof hat also tiefe Wurzeln und ist jetzt so gut aufgestellt, dass er weit in die Zukunft reichen kann.

Der Hof und viele seiner Felder liegen zwischen Dornbirn und Lustenau. Angebaut wird so ziemlich alles, was auf mitteleuropäischem Boden angebaut werden kann. Also auch scheinbare Exoten wie Pak Choi, Artischocken oder Pastinaken. Paradeiser, Zucchini oder Gurken wachsen indes im (klarerweise unbeheizten) Folientunnel. Ein Kunstgriff, den die durchschnittliche Niederschlagsmenge in Vorarlberg notwendig macht. 

Eine der Kartoffeln, für die Simon Vetter sich einsetzt, ist übrigens nicht irgendeine Grundbirn. Es ist eine St. Galler, und sie steht dafür, wofür der Vetterhof als Ganzes steht. Für das Bekenntnis zur Tradition und gleichzeitig die stetige Suche nach Innovation und Neuem. 

Die St. Galler ist eine Kreuzung, und die Idee zu dieser Kreuzung hatte ein Schweizer. Auslöser war ein ästhetischer Schwachpunkt der meisten blauen oder violetten Kartoffelsorten. Davon gibt es ja einige. Den Blauen Schweden, Blaue Österreich oder Blaugelbe Stein. Die Liste der Sortenraritäten bei den Vielfaltsarchivaren Arche Noah in Österreich oder ProSpecieRara in der Schweiz kennen noch eine ganze Menge weiterer blauer oder violetter Knollen. Sie sehen zauberhaft aus und bereichern jeden Stampf und jeden Erdäpfelsalat. Nur: Sobald sie frittiert (und somit richtig heiß gemacht) werden, ändern sie die Farbe von blau zu braun. Kein schönes helles Rehbraun wohlbemerkt. Dunkles, fleckiges Erdbraun. Das wollte der Flawiler Agronom Chrisoph Gämpeli ändern und begann zu experimentieren. Als Elternknollen verwendete Gämperli die ProSpecieRara-Sorten Blauer Schwede (auch Congo genannt) und Frühe Prättigauer. Nach ein paar Versuchsreihen und ein paar Selektionsgenerationen war alles perfekt. Die Farbe hielt den heißesten Fettattacken stand. 

Jetzt stand Simon Vetter Spaten bei Fuß und baute die neue aus den alten Sorte an. Auf seinen Bio-Äckern wachsen die Sankt Galler, und zwar so viele davon, dass die Vorarlberger in den Genuss in Form des Bio-Kistls kommen. Die Verwendungsmöglichkeiten in der Küche sind vielfältig. Allen voran natürlich als optischer Aufputz für den Kartoffelsalat. Dabei sind sie nicht nur ein Fest fürs Auge. Die Kartoffel ist vorwiegend festkochend und hat einen intensiven, süßlich-nussigen Geschmack. Ein Allrounder im Topf und bestens geeignet für den eben genannten Salat, Röstkartoffeln, Püree oder Pommes frites. Und natürlich für Chips, die in der feinen Küche eher dekorativen Charakter haben und (dort) weniger als Snack dienen. Mittlerweile kochen Spitzenköche am Arlberg (natürlich auch in Stuben) mit der violetten Kartoffel, und manchmal liefert Simon sie höchstpersönlich. Aber Achtung. Es gibt sie nicht immer. Heuer zum Beispiel ist so ein ‘leider nein’-Jahr.

Zum Schluss sei noch einmal die Lanze für die Kartoffel in der gehobenen Küche gebrochen. Ein Teil ihres üblen kulinarischen Leumunds hat sie der Tatsache zu verdanken, dass sie oft und lange als belanglose Sättigungsbeilage herhalten musste. Ja, stimmt. Gratin Dauphinois ist gut und alles andere als belanglos. Aber immer mehr Köchinnen und Köche weisen der Kartoffel eine Hauptrolle zu.  Man denke nur an die im Heu gebackene Kartoffel von Ana Roš, die sie mit Liebstöckl-Kren-Butter und Pilzsud serviert. Oder der „Lungauer Eachtling“, das signature dish von Josef Steffner, im Mesnerhaus. Ein Stampf mit Dottercreme und Kaviar angerichtet. Überhaupt spielt Kaviar immer wieder eine tragende Rolle an der Seite der Kartoffel. Das legendäre Kaviar-Ei von Lisl Wagner-Bacher. Ein gebackenes Ei, Kaviar und damit es nicht umfällt, steht es auf einem Ring aus sensationell gutem Erdäpfelpüree. 

Vor dem Genuss die Ernte. Die abgerundeten Spitzen der Heugabel schützen die Knollen vor Verletzungen.
Simon Vetter ist der Vielfaltskaiser im Ländle. In seinem Biokistl landen landet nur das Beste.
«Es gibt sie nicht jedes Jahr. Aber wenn es sie gibt, sind sie großartig.»

– SIMON VETTER, Bio-Bauer aus Lustenau –