RUNDE SACHE

WER BIN ICH? UND WENN JA, WIE VIELE?

Wir kennen sie unter unzähligen Namen. Sie ist uralt und trotzdem voll im Trend. Der VEN, der Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt, hat für die Saison 2023/24 die Rote Rübe zum ‘Gemüse des Jahres’ gemacht. Ein Grund – und weit nicht der einzige – die Rübe auf die Bühne zu bitten.

Text & Fotos: Jürgen Schmücking 

948873c6-8110-49fe-894b-1c348a11a3f4

Eine elegante Schönheit. Egal, ob frisch aus der Erde gegraben oder von Lukas Nagl zur Rose geschnitzt. Foto: Jürgen Schmücking

Die Rote Rübe soll also hier gewürdigt werden. Das ist erstens notwendig, zweitens längst überfällig. Notwendig, weil es immer noch reichlich Leute gibt, die kein gutes Haar an diesem Gemüse lassen. Fast könnte man meinen, ‘Rauner’ und ‘raunzen’ hätten einen gemeinsamen Ursprung. Haben sie vielleicht auch: den – meistens in Gläsern verpackten – Roten-Rüben-Salat aus der Kindheit. Eine Erinnerung, die bei vielen gemischte Gefühle auslöst. Zu Unrecht. Denn die Rote Rübe ist ein eigentlich ein Tausendsassa. Und zwar aus gesundheitlicher, kulinarischer und ästhetischer Perspektive. Insofern ist die Würdigung auch überfällig, denn immerhin haben großartige Köchinnen und Köche das längst erkannt und ihr, der Rübe, kulinarische Denkmäler gesetzt. 

Der Blick in die Vergangenheit

Als Nahrungsquelle nutzen wir, homo sapiens sapiens, die rote Rübe schon eine ganze Weile. Der Vorgänger unserer heutigen Sorten, quasi die Urmutter aller Rauner, ist die Beta maritima. Immer noch und auch bekannt als Seemangold oder Seerübe. Die Beta (hier kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass ‘beta’ auch die sprachliche Urform von ‘Bete’ oder ‘Beete’ ist) wuchs überall, wo die maritimen Winde  noch zu spüren waren. An den Küsten Europas, egal ob im Norden oder im Süden, in Nordafrika, am Kaukasus ebenso wie am Balkan, und irgendwie hat es das Gemüse auch nach Asien und Amerika geschafft. Blätter, Samen und Wurzeln, die in archäologischen Grabungen gefunden wurden, zeigen, dass wir vor – plusminus – 10.000 Jahren begonnen haben, die Rote Rübe zu kultivieren. Kaufleute und Seefahrer sorgten für eine entsprechende Ausbreitung, verschiedene Klimazonen für die Entstehung einer großen Sortenvielfalt. Dass beta kulinarisches Potential hat, zeigen bereits recht frühe Schriften und Tafeln. In Pompej haben Indiana Jones’ Nachfahren eine in die Wand geritzte Zutatenliste freigelegt, in der neben Kohl, Senf, Minze, Salz und Schwein auch die rote Rübe steht. Ãœber das Rezept dazu lässt sich nur mutmaßen. Der Römer Cato schreibt in seiner de agri cultura, dass Wurzeln und Stängel der Rübe gegen Verstopfung helfen. Der arabischen Kultur ist hingegen die Erkenntnis zu verdanken, dass beta ein kleines Wundermittel zur Stärkung der Sehkraft ist. Jedenfalls haben sich die gesundheitlichen Argumente für die Rauner bis heute gehalten.

»Nach ein paar Versuchen ist mir glücklicherweise gelungen, es durch Roterübensaft zu ersetzen. Ist genauso wirksam und geschmacklich absolut eine Verbesserung!.«

– MIRACULIX, DROGIST IN EINEM GALLISCHEN DORF. –

Sorten, Namen und Geschmack

Die Namen der verschiedenen Sorten sind so kreativ wie auch andere Sortenregister: Gestreifte aus der Schweiz, Rote Kugel, Sturoman, Tonda die Chioggia, Plattrunde rote Feinlaubige oder Bull’s Blood. Jede einzelne davon hat ihre spezifischen Eigenschaften. Sensorisch interessant ist die elegant-nussige Gestreifte aus der Schweiz oder die fruchtige Robuschka. 

Bei den Namen für die Gattung ist es einfacher. Wir kennen sie unter Rote Bete, Rote Beete, Rote Rübe, Rauner, Rauna, Rohne, Rande, Rätech, Randich, Rana, Rahne oder Randig. Je nachdem, wo man sich gerade befindet.

Ihr geschmackliches Potential kennen Asterix-Leser seit Folge 26, der “Odyssee”. Darin geht es um nichts Geringeres, als um das Rezept von Miraculix’ Zaubertrank. In der Geschichte vergisst ein phönizischer Händler auf das bestellte Steinöl, ohne das der Trank nicht gebraut werden kann und die Gallier den Römern schutzlos ausgeliefert sind. Am Ende ersetzt Miraculix das Steinöl durch Roterübensaft. Die Wirkung passt, die Nebenwirkung ebenso: der Zaubertrank schmeckt jetzt auch noch gut.

Heute lässt sich der Geschmack der Rübe als säuerlich, rustikal-erdig, leicht süßlich (immerhin ist die Rote Rübe mit der Zuckerrübe verwandt) und vor allem markant und unverwechselbar beschreiben. In der Küche entstehen rund um die Rübe zauberhafte und atemberaubende Gerichte an jeder Position eines mehrgängigen Menüs. Wobei das Potential noch immer nicht voll ausgeschöpft ist. Jürgen Dollase, der Mastermind der deutschsprachigen Restaurantkritik, in einem Spiegel-Interview (bevor er, und auch das ist so sicher, wie das Amen im Gebet, auf die bretonische Sandmöhre zu sprechen kommt): “Sie können die Kugeln (die Rote Bete) so zubereiten, dass sie viele Geschmäcker haben. Wenn Sie sie garen und mit Balsamico glasieren, wie das Alain Passard in Paris schon vor Jahren gemacht hat, im Kern aber roh lassen mit diesem wunderbar erdigen, leicht stumpfen Geschmack – dann haben Sie ein Kunstwerk an Mehrfachgeschmack. Aus Rohnen große Gerichte zaubern können auch einige Köche hierzulande. Lukas Nagl vom Bootshaus in Traunkirchen schmort sie im eigenen Saft mit etwas Szechuanpfeffer, Kardamom und Rosenwasser, macht aus den Abschnitten ein Chutney mit Apfel, Schalotten und Rosen. Dazu eine Sauce aus Schafmolke und Estragonöl. Zum Binden der Sauce verwendet Nagl Rogen vom Hecht. Aus der Rübe wird dann eine Rosenblüte geformt. Ein feingliedriger und eleganter Gang, der zeigt, dass man die rustikal-bodenständige Rohne auch zart und filigran zubereiten und anrichten kann. Oder weiter südlich, bei Norbert Niederkofler, dem Südtiroler 3-Sterne-Koch, der für seine konsequente und radikale Regionalität bekannt wurde. In seinem Restaurant haben sich die Rote-Bete-Gnocchi in Windeseile zum Klassiker entwickelt. Dabei sieht das Gericht einfacher aus, als es letztlich ist. Die Gnocchi werden aus Erdäpfeln, Weizenmehl und einer Reduktion aus Roter Bete gemacht. Mit am Teller sind Kren-Pralinen, eine Daikon-Creme und “Biererde”, einem Pulver aus Schüttelbrot und essbarer Kohle. Das leuchtende Rot der Gnocchi und die Linien, die mit der Rüben-Reduktion auf den Teller gezeichnet werden, sind ein echter Eyecatcher. Geschmacklich bleibt die Rote Rübe in Erinnerung. Und zwar lange. Sehr lange. 

Außerdem finden wir die Rote Rübe immer öfter in Desserts. Das legen sowohl der süßliche Grundton, aber auch die herbe Note nahe. In Christoph Bickels Oniriq in Innsbruck hat eine junge Mitarbeiterin ein großartiges Dessert entwickelt. Sogar nach Japan hat es die Rübe geschafft. Dort wird im Norden, auf der von der Landwirtschaft geprägten Insel Hokkaido, im farm-to-table-Restaurant Agriscape das Menü mit einem Dessert abgeschlossen, das die Rote Rübe in drei (oder gar vier?) Texturen darstellt. Außergewöhnlich.

Last not least kann man die Rübe auch brennen. Georg Hiebl aus dem Mostviertel destilliert das Gemüse zu einem wuchtigen Brand. Auch die pfälzische Brennerei Birkenhof oder – eine echte Empfehlung – Simon Vetter vom Vetterhof in Vorarlberg. Es gibt die Destillate als Edelbrände, aber auch als Geiste, bei denen die Rübe erst in Alkohol mazeriert und erst dann gebrannt wird. In beiden Fällen sind die Produkte oft viel intensiver als die Rohware selbst. Und egoistisch bis dorthinaus. Nach einem Glas Rote-Rüben-Destillat ist sensorisch erst einmal Schluss. Danach hat kein Wein, kein Käse, kein Dessert eine Chance. Der ultimative Digestif also.

Und hier der Schlusspunkt.

Medium rare geschmorte Rübe mit einer Scheibe Speck vom Mangalitza in einem Farm-to-table Restaurant außerhalb von Sapporo.

Fotos: Jürgen Schmücking

»Bevor der Randig ranzig wird, machen wir einen Geist daraus.«

– SIMON VETTER, LANDWIRT IN VORALBERG. –