LUST & LIEBE
KÜNSTLICHE ERDBEEREN UND KUNSTVOLLE LIPPEN
Text: Martina Bücher // Illustration: Michael Otto
Illustration: Michael Otto
Lisa ist da ganz anders gepolt. Sie erzählt Ina von ihrer kürzlich erfolgten Lippenunterspritzung. Für den Hyaluronschuss ist sie von Graz extra nach Wien getingelt. Alle ihre Freundinnen seien bei dieser Wiener Ärztin gewesen, die wahre Lippenkunstwerke erschaffen kann. Wären ihre Lider nicht verklebt – Ina hätte ungläubig die Augen aufgerissen – alle ihre Freundinnen?
Ja, sagt Lisa. In ihrem Umfeld haben alle die Lippen machen lassen, das gehöre heute einfach dazu. Zuhause befragt Ina die 20jährige Tochter einer Freundin. Die schüttelt lachend den Kopf und grunzt abfällig. In ihrem Freundeskreis seien dicke Lippen und falsche Nägel ein Abtörner. Auch aufgepumpte Riesenmuskeln, Haarimplantate oder kunstvoll gestylte Bärte scheinen in ihrer Gruppe nicht toll anzukommen. Ina klimpert nachdenklich mit ihren frisch gepimpten Wimpern. Was als attraktiv empfunden wird, scheint stark von Gruppe zu Gruppe und dann auch noch von Mensch zu Mensch zu variieren.
Selbstverständlich gibt es ein paar Faktoren die im Großen und Ganzen weltweit als attraktiv betrachtet werden. Hier geht es im Allgemeinen um Proportionen, wie etwa das rechnerische Verhältnis von Taille zu Hüfte, und Symmetrien. Dann gibt es noch ein paar detaillierte Erkenntnisse. Eines aus dem Jahr 2013 besagt, dass sowohl bei homosexuellen Männern als auch bei heterosexuellen Frauen ein Dreitagebart gut ankommt. An Frauen scheinen lange Haare ein Dauerbrenner zu sein. Humor als Attraktivitätssymbol gilt für alle. Wobei sich hierbei Männer und Frauen oft unterscheiden. Viele Frauen stehen auf Männer, die sie zum Lachen bringen, viele Männer stehen auf Frauen, die über ihre Witze lachen.
Das mit der Attraktivität ist so eine Sache, auch in kulinarischen Belangen. Alle, die in der Küche Kunst zaubern, legen Wert auf eine entsprechende Präsentation. Dazu gehören das einzigartige Geschirr, Besteck, Gläser, Deko und das Ambiente im Restaurant. Ein Rembrandt im stinkigen, schimmeligen Keller wirkt schließlich auch weniger beeindruckend als in perfekter Ausleuchtung im Rijksmuseum.
Freunde der kunstvollen Küche wissen das auch zu schätzen. Hat man gerade Lust auf eine wilde Schlemmerei ist es andererseits auch völlig egal, wenn die Käsekrainer neben einem Mistkübel voller Taubenschiss schnabuliert wird. Die knusprigen Käsekrümel und der verführerische Glanz sind Verlockung genug.
In Bezug auf die körperliche Attraktivität sind Plastik und Fake längst alltagstauglich. Nicht ganz wie in „Brust oder Keule“ mit Luis de Funès aber Fake ist auch bei Lebensmitteln zu begegnen. Erdbeerjoghurts, die nie eine Beere gesehen haben, Honig und Kaffee, die mit Süßstoffen gestreckt werden (klingt nach Drogenmafia, nicht wahr!?) oder falsche Biozertifizierungen. Die Moral von der Geschicht‘? Gibt’s keine. Moral hat nämlich nichts mit Attraktivität zu tun. Fake-Erdbeerjoghurt kann verführerisch schmecken, Lisa gefällt, was ihr gefällt und Ina lässt ihre Lippen so, wie sie sind. Sie gibt das Geld lieber für ein paar tolle Würstelstand- und Restaurantbesuche aus und leckt sich – genussvoll mit den Wimpern klimpernd – über ihre natürlichen Lippen. Auch das kann attraktiv sein.
wer&was
MARTINA BUCHER
Martina Bucher ist Psychologin, klinische Sexologin und Kommunikationstrainerin. Sie begleitet Menschen bei Anliegen zu den Themen Sexualität, Bewusstheit und Genuss. Mit ihren Texten verknüpft sie ihren Beruf mit ihrer Leidenschaft für Gastronomie.