LUST & LIEBE

LIEBER SCHWEIß ALS EIS​

Text: Martina Bücher // Illustration: Michael Otto

Kulinarisch ist der Sommer für Jo nur schwer zu ertragen. Menschen, die im Herbst auf der Straße Maroni essen, okay, das geht für ihn gerade noch. Aber die sommerliche Eisschleckerei an jeder Ecke ekelt ihn an. Verschmierte Zungen ragen aus allerlei Mündern, es wird gesabbert und gepatzt, Eiströpfchen hängen in Bärten oder Mundwinkeln.

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Illustration: Michael Otto

Ebenso dramatisch stellen sich für ihn die obligaten Sommergrillereien dar. Fettverschmierte Finger und Münder, wohin man blickt, stundenlanges Geschmatze und Gekaue und Brotkrümel am Bierflaschenhals. Andere beim Essen sehen zu müssen ist für Jo die reine Folter. 

Zum Glück weiß Jo noch nichts vom koreanischen Trend Mok-Bang. Ähnlich den ASMR-Videos, in denen man unterschiedliche Geräusche wie Kauen, Schlürfen oder Schmatzen durch spezielle Aufnahmetechniken akustisch verstärkt, um beim Publikum wohlige Gänsehaut zu erzeugen, wird mit Mok-Bang eine immer größere Fangemeinde angesprochen. Das Rezept ist einfach – eine Art Steigerung des Food-Porn-Trends. Statt geil-saftiger Steak-Fotos oder Bildern genial aufgetürmter Essensberge, wird anderen in Videos beim Essen zugesehen. Social Dining für Einsame. Für Jo das reinste Horrorszenario. Gänsehaut pur, aber nicht der angenehmen Art. 

Dass ein bisserl „Spechteln“ nicht nur für ausgewachsene Voyeure attraktiv ist, ist ja nun nichts Neues. Heimliches Schielen in Umkleidekabinen, unter Sonnenbrillen getarntes Glotzen am Strand, entspanntes Lauschen an der Thujenhecke, während die Nachbarn ein grandioses Streitkonzert liefern. Manche schauen oder hören verschämt weg, andere genießen die Lust am Spionieren. Klar, sonst hätten die „Reality TV“-Formate nicht den entsprechend fulminanten Erfolg. Hier kann man ungeniert seinen voyeuristischen Gelüsten nachkommen, am liebsten gleich in Gruppen. Natürlich basiert Pornografie auf einem ähnlichen Lustkonzept, und die ist bekanntermaßen doch recht erfolgreich. 

Wie das öffentliche Verlustieren einerseits zelebriert und andererseits auch verpönt sein kann, so ist das auch mit sozialen Aktivitäten. Es ist sozial erwünscht, gemeinsam, auch in großen Gruppen, Essen zu genießen, Menschen wie Jo gelten eher als die Ausnahme. Sozial weniger anerkannt ist hingegen das gemeinsame Genießen sexueller Lust. Dabei hat das Feiern lustvoller Orgien mit kulinarischen und sexuellen Genüssen in manchen Kulturen durchaus zum guten Stil gehört. In unserer Kultur wird dieser Lebensstil von breiten Teilen der Gesellschaft verachtet oder skeptisch beäugt. Zumindest nach außen hin. So verirrt sich die brave Beamtin schon mal nächtens in einen Swingerclub und der züchtige Familenvater bleibt im TV-Abendprogramm verschämt-neugierig bei der Gruppensexdoku hängen. 

So ungern Jo dabei zusieht, wie Ketchup von fremden Fingern geschleckt wird, so gern sieht er anderen dabei zu, wie sie einander Schweiß von erregten Körpern lecken. In Restaurants ist er selten anzutreffen, in Clubs, in denen körperliche Liebe gefeiert wird, ist er Stammgast. Gut für ihn, denn hier fühlt er sich richtig wohl. Sein einziges Problem damit ist, dass sich Restaurants für erste Dates meist besser eignen. Wobei die Frau, mit der er vielleicht sogar ein gemeinsames Abendessen genießen könnte, sich sicher auch im Swingerclub wohlfühlen wird.

 

wer&was

MARTINA BUCHER

Martina Bucher ist Psychologin, klinische Sexologin und Kommunikationstrainerin. Sie begleitet Menschen bei Anliegen zu den Themen Sexualität, Bewusstheit und Genuss. Mit ihren Texten verknüpft sie ihren Beruf mit ihrer Leidenschaft für Gastronomie.

martina.bucher@lustundleben.at