20ER JUBEL
EINS IN DIE FRESSE, MELASSE
Rhum agricole ist ein Underdog. Als Kind einer veritablen Krise entstanden, hat er zu sich gefunden und präsentiert sich Rumliebhabern als Outsider mit Ecken und Kanten. Guadeloupe, die Karibikinsel mit der Form eines Schmetterlings, ist Kernland des Rhum agricole.
Text & Fotos: Jürgen Schmücking
Wilde Hefen, die ordentlich Gas geben. Durchaus im doppelten Wortsinn
Es war einmal … Als Charles Houët, der Vertreter der französischen „Compagnie des îles d’Amérique“ in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Guadeloupe landete, fand er viele kleine Bauern vor, die auf fruchtbaren, vulkanischen Böden Baumwolle, Tabak und Indigo anpflanzten. 1654 kamen ein paar Hundert niederländische Protestanten auf die Insel, die in den Wirren der Kolonialpolitik von den Portugiesen aus Brasilien abgeschoben wurden. Diese Holländer wussten, wie mit Zuckerrohr umzugehen war, und brachten es den Franzosen auf der Antilleninsel bei. Aus den vielen kleinen Bauern wurden riesige Plantagen. Das Zuckerrohr drängte die Baumwolle und den Tabak zurück, und 1730 verschwand das letzte Indigofeld. Allerdings ist der Anbau und die Verarbeitung von Zuckerrohr sehr arbeitsaufwendig, sodass die Anfänge der – gewerblichen – Rumproduktion untrennbar mit dem Beginn der Sklaverei verknüpft sind. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte einer großartigen Spirituose.
Noch ein historischer Fakt: Ursprünglich wurde Rum aus Zuckerrohrmelasse hergestellt. Die Melasse fällt als Nebenprodukt der Rohrzuckerproduktion, genauer gesagt bei der Raffination von Kristallzucker, an. Napoleons Kontinentalsperre gegen England hatte zur Folge, dass sich der Import von karibischem Rohrzucker nicht mehr rechnete: die Geburtsstunde der Zuckerrübe und der Beginn der Zuckerkrise in Mittelamerika. Und eine gedrosselte Zuckerproduktion bedeutet auch weniger Melasse. Hier haben die Destillerien, die wegen der fehlenden Melasse in die Bredouille kamen, aus der Not eine Tugend gemacht und einfach den frisch gepressten Zuckerrohrsaft vergoren und destilliert. Voilà . Rhum agricole.
Saft oder Melasse ist eine Frage des Stils
So viel zur Geschichte. Die Sklaverei ging, der Rum blieb und wurde Teil der karibischen DNA. Nicht nur in Guadeloupe. Auch dort, wo Spanien (Kuba, Puerto Rico oder die Dominikanische Republik) oder England (Jamaika, Barbados oder Trinidad & Tobago) das Sagen hatten. Daraus entwickelten sich die drei unterschiedlichen Stile beim Rum. Der englische Stil ist dabei der älteste. Die Destillate sind dunkel, schwer, kräftig und ausgesprochen würzig. Rum in spanischem Stil basiert zwar ebenfalls auf Melasse, ist aber das genaue Gegenteil. In der Regel leicht und straight. Sie punkten eher mit Harmonie und Weichheit.
Der Rhum agricole, der Dritte im Bunde, blieb ein Underdog. Er macht gerade einmal fünf Prozent der Weltproduktion aus, von denen konzentrieren sich allerdings beinahe 100 Prozent auf die französischen Antillen und mittendrin Guadeloupe. Die Insel, die wie ein Schmetterling auf den Wellen der Karibik sitzt. Aber Achtung: Nicht jedes Destillat aus frischem Zuckerrohrsaft und auch nicht alles, was auf den französischen Inseln an Rum gebrannt wird, ist automatisch gleich ein Rhum agricole.
Eine laufende Destillerie, in der Rhum agricole gebrannt wird, ist ein faszinierendere Anblick und ein Fest für alle Sinne. Allein schon die Anlieferung des geernteten Zuckerrohrs ist ein Erlebnis. Es sind raue Mengen, die mit riesigen Traktoren und Anhängern zur Brennerei gebracht werden. Bei Reimonenq, einer der ältesten Destillerien der Insel, die sich an der nördlichen Spitze von Basse-Terre befindet, wird das geschnittene Zuckerrohr mit über 20 Meter langen Anhängern herangekarrt. Reimonenq ist so alt, dass die Betreiber entschieden, nicht nur eine Destillerie, sondern auch gleich ein Museum zu betreiben.
Wenn ich schreibe, „Fest für alle Sinne“, dann meine ich das auch so. Üblicherweise riecht es in einer Brennerei nach der jeweiligen Maische, die gerade destilliert wird. In einer Anlage, in der Rhum agricole gebrannt wird, vermischen sich viele Gerüche. Frischer Zuckerrohrsaft, Schmieröl, die Bagasse (die faserigen Rückstände nach dem Pressen des Zuckerrohrs), der wilde Gout der Fermentation, die heiße Luft, frische und verrottete exotische Früchte. Vor allem Mangos. Und es ist laut. Sehr laut sogar. Vor allem, wenn sich die großen Zahnräder drehen und das Zuckerrohr gepresst wird. Hin und wieder wird das rhythmisch-dumpfe Mahlgeräusch vom hohen Pfeifen einer Dampfmaschine unterbrochen.
Die Gärung findet in offenen Bottichen statt, in denen vesou, die Maische, schäumt und blubbert. Ein untrügliches Zeichen, dass die Hefe ihre Arbeit macht. Destilliert wird dann mit einer Kolonne, wie sie in den französischen Antillen seit Mitte des 19. Jahrhunderts üblich ist. Die vesou wird durch zwei Wärmer, einen „Chauffe-Vin“ oder Weinwärmer, und später in den „Échangeur“ oder Wärmetauscher geleitet. Sobald die Temperatur auf 70° C gestiegen ist, kommt die Maische in die Kolonne. Von den unteren Böden wird Dampf eingepumpt. Danach wird die vesou von Boden zu Boden nach unten geleitet. Der aufsteigende Dampf entzieht der Maische Alkohol, der alkoholische Dampf entweicht am oberen Ende der Kolonne in den Head-Konzentrator. Die volatilen, sprich flüchtigen Bestandteile entweichen, der Dampf wird dann durch ein Rohr geleitet und kondensiert.
Viele Destillerien auf Guadeloupe tragen französische Namen. Die Marke Damoiseau ging etwa aus der Destillerie Bellevue in der Gemeinde Le Moule hervor, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts von Roger Damoiseau erworben wurde. Heute leitet dessen Enkel Hervé die Brennerei. Der Großteil, etwa zwei Drittel des produzierten Rums, wird in Guadeloupe bzw. in der Karibik verkauft. Die „Distillerie Longueteau“ im Basse-Terre befindet sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in Familienbesitz, gekauft von einem französischen Marquis, dem die Zuckerkrise gehörig zusetzte. Zur Palette von Longueteau gehört auch eine Reihe weißer, also ungereifter Rum-Sorten. Das ist für eine Sache essenziell: Ti Punch.
Ti Punch ist ein karibischer Cocktail, dessen Grundrezeptur eine gehörige Portion Laissez-faire beinhaltet. Die Zutaten sind schlicht: Zitrusfrucht, Zucker, Rhum agricole. Man könnte meinen Rum Sour – ein Daiquiri ist auch nichts anderes. Auch Cachaça, das brasilianische Zuckerrohrdestillat, das mit Rhum agricole viele Gemeinsamkeiten hat, ist die Basis für Caipirinha, und auch der geht in die gleiche Richtung. Trotzdem: Ti Punch ist in Guadeloupe eine Glaubensfrage. In der Gastronomie findet man oft weißen Rhum agricole von Père Labat oder Bielle. Beides traditionelle Destillerien auf der „Mühleninsel“ Marie Galante, knapp 50 Kilometer von der Küste Guadeloupes entfernt. Beide, nein, alle drei Destillerien haben auch einen biozertifizierten weißen Rhum im Sortiment. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre, die gerade Fahrt aufgenommen hat.
Rumtastisch
Und was mit Laissez-faire gemeint ist? In der Karibik hat man es nicht so mit Rezepten und genauen Angaben. Der Cocktail wird oft serviert, in dem ein paar Gläser, eine Schüssel Rohrzucker, ein paar aufgeschnittene Limetten und eine Flasche Rum auf den Tisch gestellt wird. Ab da ist jeder für sich selbst verantwortlich. Das Ganze läuft dann unter dem Motto „chacun prepare sa propre mort“. Jedem sein eigener Tod.
Clémence Botino, Miss France 2020 und Ambassadrice der Marke Longueteau. In Wirklichkeit schärfer als am Bild.
Francois Longueteau hat ihn und sein Restaurant empfohlen. Für Miguel Jean-Noel von der Rhumerie du Pirate Grund genug, den ältesten Rum aus dem Regal zu holen
Adressen
RHUM BIELLE
PÈRE LABAT
DISTILLERIE DAMOISEAU
DISTILLERIE LONGUETEAU
Hinweis:
Spirits Selection ist ein internationaler Spirituosenbewerb, organisiert und durchgeführt von Concours Mondial de Bruxelles. Die Organisation lud den Autor als Juror nach Guadeloupe ein und ermöglichte die Besuche der genannten Destillerien.
www.spiritsselection.com