TANZEN DIE GANZE NACHT

Buenos Aires ist trotz der wirtschaftlichen Misere der letzten Jahre eine der lebendigsten und kultiviertesten Metropolen der Welt. Im verblassenden Glanz vergangener Glorie erfindet sich eine junge kulinarische Szene neu.

Text: Wolfgang Schedelberger

Ja, es gibt auch ganz tolle Rotweine. Und sie passen hervorragend zu jenen saftigen Steaks, die hier an jeder zweiten Ecke gegrillt werden. Fußball wird nicht erst seit dem Gewinn des dritten WM Titels im vergangenen Jahr hingebungsvoll gelebt. Und die Milongas füllen sich weit nach Mitternacht mit Tango-verrückten Tänzern jeden Alters und zwar nicht nur am Wochenende. Argentinien steckt voller Klischees und das ist gut so, denn sie stellen keinen verklärenden Blick auf eine glorreiche Vergangenheit dar. Sie sind integraler Bestandteil der gelebten Alltagskultur. 

Besonders reizvoll ist es jedoch, die aktuellen Entwicklungen der lebhaften Gastronomieszene der Stadt, die niemals schläft, zu verfolgen. Die allgegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten – allen voran ist die dreistellige Inflation zu nennen – scheinen junge Gastronomen nicht zu bremsen, sondern zu beflügeln. Das Sprichwort „Not macht erfinderisch“ kommt einem dort regelmäßig in den Sinn.

Ein weites Land voller Schätze

War man zu Zeiten der wirtschaftlichen Blüte stolz darauf, alles Mögliche aus Europa zu importieren, muss man sich jetzt auf das beschränken, was im eigenen Land wächst. Doch das ist eine ganze Menge. Argentinien ist einer der größten Agrar-Produzenten der Welt. Leider taumelt das Land seit dem Währungskollaps 2001 von einer Wirtschaftskrise in die nächste. Dazu kommen noch hohe Strafzölle, sodass Importe auf wenige, genau definierte Sektoren beschränkt sind.  

Die Klimazonen reichen vom tropischen Dschungel im Nordwesten über gemäßigte Zonen mit ausreichend Niederschlag bis hinunter nach Feuerland mit seinen fast schon arktischen Extremen. In gewisser Weise ist Argentinien also ein Garten Edens, in dem exotische Früchte genauso gedeihen, wie Äpfel, Birnen und Kirschen. Getreide, Soja und Rindfleisch wird für den Export angebaut, aber natürlich auch für die Ernährung der rund 44 Millionen Argentinier genutzt. 

Und dann gibt es noch den Wein, dessen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten gewaltige Veränderungen (und Verbesserungen) durchgemacht hat. Auf breiter Front wird zwar immer noch fruchtbetonter Malbec aus Mendoza getrunken. Gleichzeitig explodiert die Naturweinszene, die in den kleinen, alternativen Weinbars von Buenos Aires der letzte Schrei sind. Der Klimawandel beflügelt die Erkundung von Regionen, in denen Weinbau bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat. So werden in Salta auf über 2.000 Meter Höhe knackige Weißweine gekeltert, aus Patagonien kommen frische Pinot Noirs und Chardonnay – übrigens auch in sprudelnder Form. Und auch im Weinbaumekka Mendoza, wo sich die Jahrhunderte alten Weingärten schon auf 800 Meter Höhe befinden, klettern die Weinbauern immer höher hinauf. 

Das hat zur Folge, dass man in den Restaurants von Buenos Aires trotz des de facto bestehenden Importverbots für Weine aus dem Ausland, aus einer erstaunlichen Bandbreite von Weinen wählen kann. Im Geiste sind die Bewohner Argentiniens sehr weltoffen und interessieren sich dafür, was in anderen Ländern passiert, auch wenn sie beim Warenangebot fast ausschließlich auf Produkte „industria Argentina“ beschränken müssen.

«Das El Preferido ist meine Liebeserklärung an Buenos Aires.»

-PABLO RIVERO-

Traditionelle Vielfalt

Das zeigt sich auch in der Gastro-Szene von Buenos Aires. Nach wie vor gibt es die herrlich altmodischen Bodegones („Beisln“), in denen man die traditionellen Gerichte der argentinischen Küche genießen kann. Vieles ist Italienisch inspiriert. Das absolute Lieblingsgericht vieler Argentinier kommt dem Österreicher sehr bekannt vor. Allerdings stammt das allgegenwärtige „Milanesa“ nicht vom Kalb oder Schwein, sondern vom Rind. Das beliebteste Alltagsgericht ist Pizza, das an jeder zweiten Straßenecke angeboten wird. Burger sind vergleichsweise unpopulär, was wohl auch damit zu tun hat, dass „Choripan“ (Weißbrot mit gebratener Chorizo) und „Morcipan“ (gebratene Blutwurst in Weißbrot) so verführerisch gut schmecken. Kein Wunder, sie werden fast überall über Holzkohle gegrillt.

Authentische Ethno-Restaurants haben in Buenos Aires eine lange Tradition, was in einem Immigrationsland wie Argentinien nicht weiter verwundert. Auch wenn Europa ethnisch und kulturell nach wie vor dominierend ist, findet man hier auch zahlreiche asiatische und peruanische Restaurants, von denen manche richtig gut sind. 

El Patron Don Pablo

Und dann gibt es natürlich noch die tausenden Steakhäuser, die hier Parillas genannt werden. Trotz des enormen Angebots ist es gar nicht so leicht, in Buenos Aires ein richtig gutes Steak zu bekommen. Im Don Julio muss man sich diesbezüglich keine Sorgen machen. 

Pablo Ribero hat 1999 im Stadtteil Palermo das Don Julio eröffnet. Von der Gastronomie hatte er damals wenig Ahnung, von gutem Rindfleisch dafür umso mehr: Seine Familie ist seit Generation in der Rinderzucht tätig. Pablo war also kein gut vernetzter Porteño (so nennt man die Bewohner von Buenos Aires), sondern ein Neuling. Von Beginn an hat er sich mit allen möglichen Details beschäftigt, um noch bessere Steaks auf die Teller zu bringen. Zunächst kam eine eigene Fleischerei und ein Kühlhaus dazu, in dem das Fleisch zumindest 21 Tage und perfekten Bedingungen reifen kann. 

Dann begann er, die Teller vorzuwärmen, was zuvor kein anderes Steakhhouse gemacht hatte. Schließlich gründete er eine kleine biologische Landwirtschaft vor den Toren der Stadt, damit auch die Salate stets frisch und knackig sind. Außerdem ist Pablo Rivero ein bekennender Weinnarr. Der Keller im Don Julio gleicht einer Bibliothek der argentinischen Weinkultur, die auch Raritäten aus vergangenen Jahrzehnten umfasst. 

Als Küchenchef hat Pablo den vor Tatendrang nur so sprühenden Guido Tassi engagiert. Gemeinsam mit Guido Tassi hat Pablo Rivero das Konzept für sein populäres Zweitlokal El Preferido entwickelt, das auf großartige Weise ganz altmodisch ist. „Jeder schwärmt von unserer traditionellen Hausmannskost, aber es gibt immer weniger Lokale, wo sie mit besten Zutaten nach alten Rezepten zubereitet wird. Das El Preferido ist meine persönliche Liebeserklärung an diese Stadt“, beginnt Pablo zu schwärmen.

Auf den ersten Blick mag es verwundern, wieso scheinbar so einfache Lokale wie das El Preferido (Nummer 22) und das Don Julio (Nummer 2) so prominent auf der 50-Best-Liste von Lateinamerika aufscheinen. Auch auf der weltweiten 50-Best-Liste ist er als Nummer 19 im Vorfeld zu finden. Wer sich fragt, wie das mit einem Steakhouse möglich sein kann, versteht nicht, wie umfassend und leidenschaftlich Pablo Gastronomie betreibt.

«Zu einem guten Steak gehört auch ein richtig guter Wein.»

-PABLO RIVERO-

Luxus trotz Krise

Auch wenn der Glanz an manchem historischen Gebäude zu blättern beginnt, ist Buenos Aires immer noch eine reiche Stadt mit vielen wohlhabenden Menschen. Und seit die Reisebeschränkungen nach Covid wieder gefallen sind, strömen auch wieder zahlreiche internationale Touristen ins Land. Die Anreise aus Nordamerika oder Europa mag weit sein, dafür wird man mit absurd niedrigen Preisen belohnt. 

Das spannendste High-End-Restaurant ist nach wie vor das Arumburu. An der neuen Adresse im feinen Recoleta-Viertel passt das Ambiente auch zur Qualität der Küche. Als Mitglied bei Relais & Chateaux bietet man auch eine repräsentative Weinkarte und luxuriösen Komfort. Besonders gemütlich wird es bei den Desserts, die im ersten Stock in einem privat wirkenden Salon serviert werden. Dort möchte man eigentlich den ganzen Abend bleiben, aber dafür sind die Verlockungen der Nächte in Buenos Aires dann doch zu reizvoll.          

Ein bisschen weniger charmant, aber ähnlich köstlich geht es im Chila in Puerta Madero zur Sache. Küchenchef Pedro Bargero lädt mit seinem Menü zu einer Rundreise durch ganz Argentinien ein. Eine Landkarte auf der Rückseite des Menüs erleichtert die Orientierung. Was in beiden Lokalen positiv auffällt: Das Wasser kommt gut gekühlt in einer Markenflasche „AQA“ zu Tisch, tatsächlich wurde es aber „nur“ aufwändig gefiltert, eigentlich stammt es aus der Leitung. Weder sensorisch noch hygienisch lässt sich an diesem ressourcenschonenden Konzept etwas aussetzen.

Hip und lässig

Eine halbe Stunde flußaufwärts liegt das bezaubernde Bistro Alo, das nicht nur mit saisonalen Gerichten überzeugt, sondern auch eine der spannendsten Weinkarten mit Schwerpunkt „Organic“ zu bieten hat. Extrem witzig ist nach wie vor das Gran Dabbang von Mariano Rámon – dort gibt es ein originelles Potpourri aus asiatischem Streetfood. Mit seinem verrückten Restaurant – nichts anderes bedeutet Mishiguene auf Jiddisch – bringt Tomás Kalika eine gelungene kulinarische Mischung aus Osteuropa und der Levante nach Südamerika. Auch richtig guten Fisch gibt es in der Stadt. Die spannendste Adresse ist wohl das Crizia, wo Patron Gabriel Oggero Wildfang aus dem Atlantik und Austern aus Patagonien bevorzugt über offenem Feuer zubereitet.  

La ciudad que nunca duerme

In Argentinien wird traditionell sehr spät gegessen. Wer vor zehn Uhr abends in einem Restaurant auftaucht, outet sich als Tourist. Die Bars füllen sich erst deutlich nach Mitternacht. Das Gleiche gilt für Clubs und Discotheken. Eine Besonderheit der Stadt sind die Milongas, wo man bis zum Morgengrauen Tango tanzt. Das ist übrigens kein Privileg der Jugend. In Milongas kommen sich unterschiedliche Generationen und verschiedene soziale Schichten sehr nahe – vereint durch die einzigartige Musik dieser Stadt.

Es gibt nur wenige andere Metropolen auf dieser Welt, die ein derart abwechslungsreiches Nachtleben bieten. Wieso New York den Beinamen, „die Stadt, die niemals schläft“ trägt, ist zumindest im Vergleich zu Buenos Aires sehr fragwürdig. Wobei die Mentalität in New York schon etwas anders ist. In den USA ist man stolz, bis zu 16 Stunden am Tag zu arbeiten. In Buenos Aires gehört eine Siesta zwischen 18 und 20 Uhr einfach dazu, um dann für die Nacht fit zu sein. 

“Weinnarr” Pablo Rivero hat vor fünf Jahren das El Preferido eröffnet.

«Luxusgastronomie hat nichts mit Importware zu tun.»

-PABLO RIVERO-

Rund um den Plaza im Ausgehviertel Palermo reiht sich eine Bar an die nächste. 

Das El Obrero im La Boca-Viertel ist eines der legendärsten “Bodegonés” der Stadt.

Das Wasser wird im Restaurant gefiltert und kommt in edlen Flaschen zu Tisch.

Der Autor im Gespräch mit Gonzalo Arumburu, dem genialsten Koch Argentiniens (re.)

Von Mitternacht bis zum Morgengrauen herrscht in den Bars Hochstimmung.